Der 9. November 1989 hat sich tief in mein Gedächtnis gegraben. Die Bilder von Ost- und Westdeutschen, die sich nach der Öffnung der Grenze lachend und weinend in den Armen liegen, hüte ich wie einen Schatz in meiner Erinnerung. Ich war wenige Tage zuvor als Staatssekretär in offizieller Mission in Ost-Berlin. Die Stimmung war völlig anders als früher. Menschen protestierten auf der Straße und ich spürte eine große Anspannung auf allen Seiten. Ich habe es trotzdem nicht für möglich gehalten, dass die Menschen dort kurze Zeit später Weltgeschichte schreiben werden. Und doch ist es passiert. Was für ein großes Glück!

30 Jahre ist das jetzt her – eine kleine Ewigkeit. Und doch bewegt es mich, als sei diese Zeit niemals vergangen. Freude und Dankbarkeit erfüllen mich, wenn ich an das Ende der schmerzhaften Teilung denke, die wir gerade an der Grenze zwischen Hessen und Thüringen ganz konkret erlebt haben. Der Blick zurück erfüllt mich auch mit Stolz. Es ist nach meiner Kenntnis das erste Mal, dass es gelungen ist, ein diktatorisches Regime zu stürzen, ohne dass ein einziger Schuss gefallen ist. Der Mut und die Tapferkeit der Demonstranten, sich gegen die Staatsgewalt aufzulehnen, lässt sich kaum ermessen. Das Massaker an der rebellischen Jugend in China, die Reformen gefordert und dafür mit ihren Leben bezahlt hatte, war erst wenige Monate alt. Doch die Menschen im Osten Deutschlands haben ihre Angst besiegt und ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen. Sie haben die Stärke des Volkes bewiesen und sich ihre Freiheit erkämpft. Ich sehe es als meine, als unsere persönliche Pflicht aus Respekt vor diesen Menschen, die für Freiheit und Demokratie gestritten haben, dieses Erbe der friedlichen Revolution zu schützen und zu bewahren. Freiheit ist nicht selbstverständlich.

Die innere Einheit wieder stärker in den Blick nehmen

Die äußere Einheit ist 1989 gelungen. Es ist nun an der Zeit, die innere Einheit wieder stärker in den Blick zu nehmen. Die Gegenwart fordert uns heraus. Die Einheit unseres Landes und die Wertschätzung dafür müssen wieder einen festen Platz in den Köpfen und Herzen der Menschen haben. Sie ist eine Erfolgsgeschichte. Auch wenn nicht alles gelungen ist, dürfen wir nicht das Trennende suchen, sondern heute und in Zukunft bereit sein, Brücken zu bauen und Grenzen zu überwinden.

Es ist unsere Verantwortung, den Feinden der Demokratie die Stirn zu bieten. In Zeiten, in denen neue Gräben zwischen Ost und West entstehen und aus der Saat von Verzagtheit und Angst der Wunsch erwächst, sich abzuschotten vor dem Fremden, dem Ungewissen und vor Andersdenkenden, appelliere ich an die Menschen: Reißt eure inneren Mauern ein und befreit das Herz vom Stacheldraht. Einigkeit und Recht und Freiheit in einem glücklich wiedervereinigten Deutschland gelingt, wenn wir uns nicht von Sorgen und Zweifeln leiten lassen, sondern unsere gemeinsame Zukunft mit Mut, Zuversicht und Offenheit gestalten. Diesen Geist, die Freude und den Stolz über eine Zukunft in Freiheit und Selbstbestimmtheit sowie die Aufbruchsstimmung, die vor 30 Jahren das feste Fundament eines geeinten Deutschlands waren, wünsche ich mir auch heute. Dafür kämpfe ich mit Worten und Taten. Wir sind ein Volk!

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